Bürgerjournalismus
Bürgerjournalismus (citizen journalism) – auch partizipativer Journalismus, nutzergenerierte Inhalte oder Basisjournalismus genannt – findet immer dann statt, wenn Nicht-Journalisten Aufgaben übernehmen, die normalerweise professionellen Journalisten vorbehalten sind. Das kann alles sein – von einem spärlich besuchten Blog, der heimlich aufgenommene Fotos lokaler Prominenter veröffentlicht, bis hin zu einer ausgeklügelten hyperlokalen Plattform, die von einer Vielzahl ehrenamtlicher Helfer oder Aktivisten betrieben wird.
Bürgerjournalismus bezeichnet auch Beiträge von Bürgern für die etablierten Medien – etwa wenn Fotos von Augenzeugen eines Erdbebens, städtischer Unruhen oder eines Verkehrsunfalls von großen Zeitungen veröffentlicht werden. Selbst Aktivitäten von Menschen, die keine eigenen Inhalte erstellen, aber bestehende Inhalte – meist aus alternativen Medien – über soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Instagram weiterverbreiten, werden dem Bürgerjournalismus zugeordnet.
Zunehmend – wenn auch umstritten – wird der Begriff auch für Personen verwendet, die zwar in journalistischen Techniken und Prinzipien geschult sind, aber unabhängig arbeiten und ihre Inhalte über nicht-etablierte Plattformen wie Foren oder Blogs veröffentlichen.
In der Praxis zeigt sich, dass Bürgerjournalismus eine Mischform verschiedenster Medienpraktiken ist, deren gemeinsames Merkmal darin besteht, von Nicht-Professionellen erstellt, gesteuert oder präsentiert zu werden. Die Definitionen und Motive sind vielerorts komplex und umstritten. Es gibt keinen einheitlichen Ethik-Kodex, keine formalen Zugangsvoraussetzungen, keine professionellen Standards oder tragfähigen Geschäftsmodelle. Dennoch ist der anhaltende Einfluss des Bürgerjournalismus auf Journalismus und Gesellschaft unbestritten – und das ist wohl der Hauptgrund, warum er zunehmend im Mittelpunkt von Forschung, Berichterstattung und universitären Lehrplänen steht, auch an der Open Professional School. Im nächsten Abschnitt dieses Moduls betrachten wir die Geschichte des Bürgerjournalismus.
Eine alte Praxis in neuem Kontext
Das Konzept des Bürgerjournalismus ist nicht neu. Anders als technologische Deterministen behaupten, wird seine anhaltende Präsenz und Popularität nicht ausschließlich durch technologische Innovationen angetrieben.
Die Beteiligung von „Außenstehenden“ an journalistischer Arbeit gab es lange vor dem Aufkommen neuer Medientechnologien. Die Motivation, Ziele und Aktivitäten vieler Pamphletenschreiber im 18. Jahrhundert – etwa Thomas Paine oder Stephen Hopkins – ähneln stark denen heutiger Bürgerjournalisten.
Ob durch Flugblätter auf öffentlichen Plätzen des 18. Jahrhunderts oder durch Blogbeiträge im digitalen Raum des 21. Jahrhunderts: Engagierte Bürger haben stets versucht, sich Gehör zu verschaffen – nicht bloß, weil ihnen die Werkzeuge zur Verfügung standen, sondern weil sie die öffentliche Debatte beeinflussen und herrschenden Diskursen etwas entgegensetzen wollten.
Leserbriefe in Zeitungen und Zeitschriften oder Anrufersendungen im Radio und Fernsehen verbinden seit Jahrzehnten die Medien mit ihrem Publikum in einer produktiven Zusammenarbeit. Auch wenn Bürger von Medienunternehmen als freie Mitarbeiter oder Korrespondenten beschäftigt werden oder wenn ihre Augenzeugenberichte in Nachrichtenbeiträge eingebaut werden, findet Bürgerjournalismus statt.
Trotz dieser langen Tradition lässt sich feststellen, dass sich in den 1990er Jahren eine neue, radikalere Form des Bürgerjournalismus herausgebildet hat.
Diese neue Ausprägung zeichnet sich aus durch:
- direkteren Einfluss auf etablierte Medien,
- niedrigere Zugangshürden,
- flachere Hierarchien zwischen Profis und Amateuren.
Neue Technologien ermöglichen Einzelpersonen, einflussreiche Online-Nachrichtenplattformen zu schaffen oder sich in Gruppen zu organisieren, deren Wirkung mit der klassischer Medien konkurriert.
Die Verbreitung internetfähiger Mobiltelefone und Digitalkameras hat diese Entwicklung stark gefördert. Damit können Nutzer Ereignisse in Echtzeit dokumentieren und sich so die privilegierte Rolle des „Autors des ersten Entwurfs der Geschichte“ sichern.
Doch technologische Innovationen sind nicht der einzige Faktor.
Das Vertrauen in die Medien hat gelitten – etwa durch die problematische Berichterstattung über die Golfkriege oder den Abhörskandal in Großbritannien. Immer mehr Menschen suchen nach alternativen Stimmen.
Globalisierung und Migration haben diasporische Gemeinschaften und kulturelle Minderheiten entstehen lassen. Viele dieser Gruppen fühlen sich durch die etablierten Medien nicht repräsentiert – Bürgerjournalismus wird so zum Werkzeug der Selbstbestimmung.
Wichtige Etappen in der Entwicklung des modernen Bürgerjournalismus
Die heutige multimediale Nachrichtenumgebung bietet neue politische Möglichkeiten, um sich unabhängig von Mainstream-Medien Gehör zu verschaffen.
Ein zentraler Meilenstein war die Gründung des Independent Media Centre (Indymedia) während der WTO-Proteste in Seattle 1999. Mit mobiler Technik und dezentraler Struktur wurde hier eine Gegenöffentlichkeit aufgebaut – offen, basisnah, kollaborativ.
Diese Arbeitsweise wurde Vorbild für viele Projekte weltweit. Als 2000 in Südkorea OhMyNews gegründet wurde, bekannten sich die Initiatoren explizit zu demokratischer Teilhabe und offenem Zugang zu Inhalten.
Seit 1999 haben Bürgerjournalisten wichtige Proteste dokumentiert – u. a.
- die Londoner Unruhen 2011,
- die Occupy-Proteste in den USA,
- die Aufstände in der Türkei und Brasilien (2013),
- die Unruhen in Venezuela (2014).
Auch der 11. September 2001 markiert eine Zäsur: US-Medien forderten aktiv Augenzeugenberichte, Fotos und Videos von der Öffentlichkeit an.
In Großbritannien war der 7. Juli 2005, der Tag der Londoner Bombenanschläge, ähnlich prägend: Unbearbeitetes Material von Betroffenen wurde Stunden später auf BBC-Webseiten veröffentlicht.
Das dabei entstandene Kooperationsmodell prägt seither die Berichterstattung über unvorhergesehene Ereignisse – etwa:
- Tsunami in Asien (2004)
- Hurrikan Katrina (2005)
- Erdbeben in Japan (2011)
- Hurrikan Sandy (2012)
Die Einbindung der Öffentlichkeit wurde institutionalisiert:
- CNN startete i-Report,
- Fox News u-Report,
- der Guardian betreibt GuardianWitness,
- die BBC das Format Have Your Say.
Die Technikbranche unterstützt dies mit immer leistungsfähigeren Geräten und Anwendungen. Blogs lassen sich in Minuten einrichten. Die digitale Schwelle ist niedrig, die Beteiligung hoch.
Bürgerjournalismus, klassische Medien und Öffentlichkeit
Bürgerjournalismus steht außerhalb der klassischen Medien, ist aber vielfach mit ihnen verbunden. Seine Bedeutung im 21. Jahrhundert ergibt sich genau aus diesen Verbindungen.
Sein größter Beitrag liegt vielleicht nicht im Informationswert, sondern in den Veränderungen, die er im traditionellen Journalismus angestoßen hat.
Die „Weisheit der Vielen“ wird ernster genommen. Journalismus wird weniger Predigt, mehr Dialog. Das erhöht seine demokratische Legitimation.
Er bereichert öffentliche Debatten – vor allem in Ländern mit hoher Medienfreiheit.
Je größer die Autonomie der Kommunizierenden gegenüber zentralen Medienkontrollinstanzen, desto größer die Chancen, dominante Werte in Frage zu stellen.
Bürgerjournalismus gibt engagierten Menschen die Möglichkeit, Gegennarrative zu etablieren.
Die Grenze zwischen „den Medien“ und „den Nutzern“ verschwimmt. Persönliche und emotionale Bindungen zu den Inhalten und ihren Machern entstehen. Das kann dem Journalismus nur guttun.
Im abschließenden Teil des Moduls werden die Grenzen und Perspektiven des Bürgerjournalismus diskutiert.
Bürgerjournalismus – Herausforderungen und Perspektiven
Kritiker werfen dem Bürgerjournalismus vor, es fehle ihm an professioneller Kontrolle – was zu Fehlinformation, Sensationsgier, Gerüchten und Lügen führen könne.
Tatsächlich können unbewiesene Behauptungen dem Ansehen schaden. Solche Probleme traten besonders in den Anfangsjahren auf – und sind mancherorts weiterhin präsent.
Aber Verleumdungsklagen und Schadensersatzforderungen wirken abschreckend.
Zudem gibt es Schulungen für Bürgerjournalisten, die eine gewisse Professionalisierung fördern.
Dennoch ist Bürgerjournalismus in vielen Teilen der Welt durch technische Rückstände, Armut und Analphabetismus stark eingeschränkt – und vertieft damit mitunter die digitale Kluft, statt sie zu verringern.
Trotzdem hat Bürgerjournalismus:
- den Stimmlosen eine Stimme gegeben,
- den Journalismus verändert,
- die öffentliche Sphäre neu belebt.
Sein Einfluss wird weiter wachsen.
Autor: Dr. Abel Ugba