Rucksack-Journalismus
Rucksack-Journalismus (backpack journalism) wurde von einem seiner Pioniere, Bill Gentile, beschrieben als „die Kunst eines professionell ausgebildeten Einzelnen, der mit einer handgehaltenen Digitalkamera Geschichten unmittelbarer und intimer erzählt, als es mit einem Team aus Kameramann, Tontechniker, Reporter und Produzent möglich wäre“.
Im Kern des Rucksack-Journalismus steht das multimediale Erzählen. Der Reporter nutzt verschiedene Medienwerkzeuge wie leichte Laptops, Satellitentelefone, Schnittsoftware und Kameras – Ausrüstung, die nur einen Bruchteil von Kosten und Gewicht früherer Schulterkameras ausmacht.
Das bedeutet: Der Journalist muss gleichzeitig Reporter, Fotograf, Kameramann, Redakteur und Produzent sein. Was einst als neue Spezies galt, ist heute zunehmend Standard.
Diese Entwicklung passt zum Wandel der globalen Medienlandschaft. Printmedien produzieren visuelle Inhalte für Websites, Fernsehsender stellen zusätzlich Online-Formate bereit. Die Vielzahl der Plattformen erreicht ein breiteres und vielfältigeres Publikum.
Statt für jede Nachricht ein Team einzusetzen, können heute einzelne Mitarbeiter mehrere Beiträge alleine umsetzen – das verdoppelt oder verdreifacht teilweise die Berichterstattung.
Rucksack-Journalisten arbeiten häufig freiberuflich oder projektbezogen und liefern Texte, Fotos und Videos für Web, Fernsehen und andere Medien – oft aus Gegenden, die für größere Teams nur schwer erreichbar sind. Die journalistischen Grundregeln gelten auch hier: Neben technischem Können zählen Fairness, Genauigkeit und Ausgewogenheit.
Im Einsatz muss der Reporter eine Verbindung herstellen, die Kamera aufbauen und sich oft selbst filmen.
Laut Gentile ist Rucksack-Journalismus im Kern „eine Methode, mit journalistischen Mitteln kraftvolle, intime Geschichten zu erzählen, die Menschen über die Grenzen ihrer eigenen Lebenserfahrung hinausführen und mit den Kräften und Entwicklungen verbinden, die unsere Welt täglich verändern“.
Er sieht die Methode in der Tradition der dokumentarischen Standbildfotografie, bei der genug Zeit bleibt, um Figuren und Handlungen zu dokumentieren – ohne sie unnötig zu beeinflussen.
In seinem Blog schreibt Gentile: „Rucksack-Journalisten machen alles – am wichtigsten aber: Wir machen die Bilder. Die sind der Motor der visuellen Kommunikation. (Es heißt ja nicht ohne Grund tele-VISION.) Im Einsatz filmen wir, nehmen Ton auf, produzieren, berichten, interviewen. Wir schreiben das Skript, manchmal sprechen wir es selbst. Je nach Situation schneiden wir das Material selbst oder arbeiten mit einem Editor zusammen.“
Entstehung / Historische Entwicklung / Wichtige Personen
Der Begriff Rucksack-Journalismus entstand Mitte der 1990er-Jahre – als Reaktion auf die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen der Medienbranche. Journalisten mussten mehr Aufgaben übernehmen: berichten, filmen, fotografieren, schneiden, produzieren.
Die ersten Vertreter dieser Form kamen aus dem Projekt Video News International (VNI), einer Initiative von The New York Times Television. Zu den Pionieren zählten Jane Stevens und Smita Paul.
Stevens schrieb: „VNI war die Idee von Michael Rosenblum, einem ehemaligen TV-Journalisten. Er war überzeugt, dass Printreporter, die mit kleinen, hochwertigen Digitalkameras umgehen können, die internationale Berichterstattung fördern würden – denn es ist billiger, einen Videoreporter zu schicken als ein ganzes Team.“
Das war noch vor dem 11. September 2001 – damals war nicht absehbar, dass neue Digitalkameras hauptsächlich für Webformate und nicht nur für Fernsehen und Dokumentationen verwendet würden.
Noch in den 1990er-Jahren brauchte man über 20 Ausrüstungskisten und ein Team aus fünf Personen, um aus Bagdad live zu senden. 2008 reichte Jamie McIntyre (CNN) ein MacBook Pro mit Webcam und Satellitenverbindung, um live aus dem Irak zu berichten – allein.
Nach dem 11. September erstellten viele Medien eigene Webseiten mit Slideshows, Videos, Hintergrundberichten zu Terrorismus und Links zu weiterführenden Informationen. Auch ABC und NBC zogen nach.
Das Rucksack-Journalismus-Projekt der American University sieht sich laut eigener Aussage als Plattform zur Erkundung neuer Technologien und Erzählformen, mit dem Ziel, die nächste Generation visueller Journalisten im Geist des Fotojournalismus und Dokumentarfilms auszubilden.
Ein weiterer Grund für das Aufkommen dieser Form war der Kostendruck: Dokumentarisch erzählter Journalismus ließ sich mit Einzelpersonen günstiger umsetzen.
Heute ergänzen Printmedien ihre Artikel mit Audio- und Videoinhalten, Radiosender archivieren online und erweitern ihre Beiträge um Textversionen. Medien haben sich zu einem 24-Stunden-Geschäft entwickelt, das alle verfügbaren Technologien nutzt.
Arbeitsweise und Beispiele
In einer globalisierten, mobilen Welt verschwimmen die Grenzen zwischen Bürger- und Berufsreportern. Rucksack-Journalismus ist ein Paradebeispiel für Medienkonvergenz: Text, Ton, Bild und Animation werden vereint.
Klassischer Print (Text, Fotos, Grafiken) und Fernsehen (Video, Audio, Animationen) erzählen linear – das Publikum konsumiert passiv. Multimediales Erzählen hingegen ist nichtlinear und interaktiv: Text, Bild, Ton und Video werden kombiniert, Nutzer können kommentieren, eigene Beiträge hochladen oder sich an Diskussionen beteiligen.
Diese Form ist informativer, visuell ansprechender – verlangt aber vom Journalisten mehr Fähigkeiten. Er muss recherchieren, filmen, schneiden, gestalten, präsentieren. Der Rucksack-Journalismus verändert klassische Themenressorts und kann die Berichterstattung erweitern.
Er eignet sich besonders für personenbasierte Geschichten. Tom Kennedy definierte die Methode als Erzählform, bei der eine einzelne Person alle Rollen übernimmt – von der Aufnahme bis zum fertigen Beitrag.
Diese Herangehensweise ist persönlicher. Man kann sich den Protagonisten intensiver widmen, mehr Zeit für Beobachtung und Interviews aufbringen.
In der Praxis stellt sich die Frage: Wie komme ich an den Drehort? Welche Technik nutze ich? Welche Software ist geeignet? YouTube-Tutorials helfen bei der Vorbereitung.
Claudio Accheri, italienischer Rucksack-Journalist, sagt: „Es dauert manchmal drei bis vier Tage, um eine einzige Minute Film fertigzustellen. Man lernt durch Fehler. Ich kann dir zeigen, wie man sieben Töne spielt – aber was du daraus machst, musst du selbst herausfinden. Beim Schnitt merkt man oft: Dieses Bild hätte man anders drehen müssen.“
Wer für YouTube arbeitet, muss präzise und kompakt produzieren: Interviews 30 bis 60 Sekunden, gute Trailer. In Kriegs- und Krisengebieten kommen häufig iPhones zum Einsatz – sie fallen weniger auf. Bei schlechter Internetverbindung sind sie auch gut für schnelle Schnappschüsse geeignet. Für alles über zwei Minuten ist hochqualitatives Material Pflicht.
Accheri sagt: „Mit einem Laptop zu reisen ist mühsam … man schläft quasi mit ihm. Im Bus hält man ihn wie ein Baby.“
Praktische Tipps:
- Schütze deine Ausrüstung vor Feuchtigkeit und achte darauf, dass deine Tasche richtig verschlossen ist. Verpacke Technik in Schals oder Stoff.
- Nimm ausreichend Akkus und Speicherkarten mit – manchmal gibt es tagelang keinen Strom.
- Buche Flüge und Hotels nicht zu früh – ein guter Bericht ist wichtiger als ein pünktlicher Rückflug.
- Nimm vorher Kontakt zu Hilfsorganisationen und anderen Journalisten auf.
- Nutze soziale Netzwerke. Teile deine Berichte – sie könnten auch anderen nützlich sein.
- Gilt auch für Botschaften, Kirchen, Kontakte vor Ort.
- Führe immer handschriftliche Aufzeichnungen – Notizbuch, Stift, Tonaufnahmegerät.
Kritische Perspektiven
Viele sehen im Rucksack-Journalismus das Modell der Zukunft: Der Reporter muss heute vielseitig und technisch kompetent sein. Andere sehen das Einzelkämpfer-Prinzip kritisch – denn Qualität und Tiefe könnten unter der fehlenden Spezialisierung leiden.
Ein weiterer Einwand: Auch technisches Know-how garantiert keinen Job – in einer Branche mit schrumpfenden Stellenangeboten.
Manche Kritiker argumentieren, dass diese Arbeitsweise die journalistische Sorgfaltspflicht untergräbt. Lou Ureneck von der Boston University spricht von einem „nivellierenden Effekt“ – durch ständiges Multitasking leidet die Qualität, weil der Reporter sich nicht mehr auf einzelne Schritte konzentrieren kann.
Andere hingegen sagen: Wer nicht eigenständig, medienübergreifend und flexibel arbeitet, wird in Zukunft nicht bestehen. Entscheidend bleibt, dass Texte gut geschrieben sind, den nötigen Kontext liefern und auf gründlicher Recherche basieren – nur dann wird aus dem Beitrag guter Journalismus.
Autorin: Diana Plater