Literarischer Journalismus
Der literarische Journalismus (literary journalism), der auch häufig als immersiver Journalismus oder erzählender Journalismus bezeichnet wird, ist eines der zwei großen Genres des Journalismus in der heutigen Welt. Im Gegensatz zum anderen großen Genre, dem objektiven Journalismus, das den Schwerpunkt auf unparteiische, empirische Fakten und den sogenannten umgekehrten Pyramidenstil des Berichtens legt, stellt der literarische Journalismus den Versuch dar, ein tieferes, nuancierteres Verständnis bestimmter Themen durch den Einsatz literarischer Techniken zu erreichen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der literarische Journalismus traditionelle Informationsbeschaffungsverfahren meidet oder nicht das Ziel verfolgt, sachlich korrekte Nachrichten zu liefern. Wie der objektive Journalismus basiert auch der literarische Journalismus auf gründlich recherchierten Informationen, die durch direkte Beobachtungen, Interviews mit Quellen, Durchsicht relevanter Dokumente usw. gewonnen wurden – jedoch mit besonderer Aufmerksamkeit auf literarische Techniken. Somit ist das Ziel des literarischen Journalismus, ebenso wie beim objektiven Journalismus, glaubwürdige Erzählungen durch überprüfbare Fakten zu produzieren.
Im Laufe der Zeit haben sich bestimmte Prinzipien des literarischen Journalismus herausgebildet, die ihn als journalistisches Genre definieren und von anderen Genres abgrenzen. Erstens werden Nachrichtenberichte, die diesen Prinzipien folgen, häufig aus der Perspektive eines Ich-Erzählers erzählt, bei dem es sich um den Journalisten selbst handelt, wobei der Journalist oft eine prominente Rolle in der Geschichte einnimmt – neben deren Hauptfigur(en) oder Thema(en). Zweitens beruhen solche Berichte häufig auf der tiefen und langanhaltenden Einbindung des Journalisten in die Welt, über die er berichtet, und folgen einer bestimmten Figur und/oder einem bestimmten Thema über einen längeren Zeitraum hinweg. Drittens erläutern solche Berichte oft die persönlichen Erfahrungen bestimmter Figuren, indem sie deren privateste Gedanken und Gefühle detailliert darstellen. Viertens werden diese Ziele häufig dadurch erreicht, dass solche Berichte im Stil von fiktionalen Erzählungen verfasst sind, mit Szenen, Figuren und Handlungen, einschließlich gesprochener Sprache und Dialogen statt bloßer Zitate, und durch den Einsatz literarischer Mittel wie Ironie und Satire.
Durch die Verbindung von Faktenberichterstattung mit dem Schreibstil von Fiktion besteht das übergeordnete Ziel darin, Nachrichtenberichte zu schaffen, die für das Publikum möglichst fesselnd sind und eine Identifikation mit der Stimme des Journalisten und seinen Figuren ermöglichen – ähnlich wie bei gelungener Fiktion. Im Gegensatz zum objektiven Journalismus, der dazu neigt, Berichte zu entpersonalisieren und eine Distanz zwischen dem Publikum und den behandelten Personen und Themen zu schaffen, versucht der literarische Journalismus, Berichte zu personalisieren und diese Distanz aufzuheben, indem das Publikum nahe an die dargestellten Figuren und Themen herangeführt wird. So versucht der literarische Journalismus – wie jede gute Fiktion – Erfahrungen so zu gestalten, dass sie sich vom Bereich des Privaten in eine Bedeutung für ein größeres, öffentliches Publikum verschieben.
Die historischen Wurzeln des literarischen Journalismus
Obwohl der literarische Journalismus als kleiner Teil einer größeren westlichen Tradition narrativer Beschreibung verstanden werden kann, die bis ins antike Athen und Rom zurückreicht, liegen seine modernen Ursprünge im literarischen Nachrichtenschreiben des späten 17. Und frühen 18. Jahrhunderts in England, insbesondere in Edward Wards Buch The London Spy und den essayistischen Berichten von Joseph Addison und Richard Steele in The Spectator. In den Vereinigten Staaten, wo der literarische Journalismus besonders weit verbreitet und ausgeprägt ist, lässt sich das Genre bis ins späte 18. Jahrhundert zurückverfolgen und insbesondere auf das Entstehen zweier unterschiedlicher Stile des Berichtens: des informationsbasierten und des erzählungsbasierten Modells.
Das informationsbasierte Modell, das dem heutigen objektiven Journalismus entspricht, beruht auf der grundlegenden Überzeugung, dass Journalisten über Nachrichten und aktuelle Ereignisse in neutraler und distanzierter Weise mittels klarer und objektiver Fakten berichten sollten. Das erzählungsbasierte Modell hingegen besagt, dass Journalisten narrative Techniken nutzen sollten, um dem Publikum einen Eindruck von ihrer eigenen, subjektiven Deutung bestimmter Ereignisse zu vermitteln. Während das informationsbasierte Modell dem Publikum die Aufgabe überlässt, aus den präsentierten Fakten selbst Bedeutung zu erschließen, schlägt im erzählungsbasierten Modell der Journalist eine oder mehrere mögliche Bedeutungen vor. Letzteres Modell wurde in den 1890er Jahren populär, als mehrere bedeutende New Yorker Zeitungen – darunter das New York Journal, die New York Sun und die New York World – begannen, es in ihrer Berichterstattung anzuwenden.
Von den 1890er bis in die 1910er Jahre wurden die Techniken des literarischen Journalismus noch stärker verankert, als sogenannte „Muckraking“-Journalisten verschiedene narrative Mittel einsetzten, um ihre Geschichten über soziale Ungerechtigkeit, politische Korruption usw. zu erzählen. Zu den bekanntesten dieser Journalisten zählen Upton Sinclair, dessen Buch The Jungle die miserablen Zustände in der US-amerikanischen Fleischverarbeitungsindustrie aufdeckte, und Ida Tarbell, deren Buch The History ft he Standard Oil Company Missstände in der US-Ölindustrie öffentlich machte.
Die Techniken des literarischen Journalismus erlebten auch in den 1960er und 1970er Jahren eine Blütezeit im Rahmen der sogenannten Bewegung des „Neuen Journalismus“ – einer journalistischen Reformbewegung, laut der Journalisten die gleichen Techniken verwenden sollten, um über reale Nachrichten und Ereignisse zu schreiben, wie Schriftsteller sie verwenden, um Geschichten über fiktive Geschehnisse zu verfassen. Obwohl der Ursprung des Begriffs „Neuer Journalismus“ unklar ist, wurde diese Bewegung vor allem mit Tom Wolfe und seinem 1973 erschienenen Sammelband The New Journalism in Verbindung gebracht. 1965 hatte ein weiterer prominenter Vertreter, Truman Capote, seinen Roman In Cold Blood zunächst als vierteilige Serie im New Yorker veröffentlicht und später als Buch herausgegeben. Der Roman erzählte die tragische Geschichte des Mordes an einer ganzen Farmerfamilie in Kansas. Weitere einflussreiche Vertreter des Neuen Journalismus waren Jimmy Breslin, Joan Didion, Norman Mailer, Gay Talese und Hunter Thompson, unter vielen anderen.
Die Praxis des literarischen Journalismus
Der literarische Journalismus verfügt nicht nur über eine reiche Geschichte, sondern wird auch heute noch von allen Arten von Medien – Print, Rundfunk und Online – weltweit praktiziert. Obwohl dieses journalistische Genre in allen Medien floriert, erscheint es am häufigsten in Nachrichtenmagazinen und Büchern. Viele Sachromane nutzen tatsächlich die Techniken des literarischen Journalismus, um ihre Geschichten zu erzählen. Da literarische Journalismusgeschichten oft viel Platz benötigen, erscheinen sie seltener in Tageszeitungen. Wenn sie dort erscheinen, dann oft als besondere Wochenendbeiträge.
Manchmal erscheint eine Geschichte des literarischen Journalismus zunächst in einem Medium und wird anschließend in anderen Medien erweitert und überarbeitet. Ein prominentes Beispiel ist die Serie Blackhawk Down der Philadelphia Inquirer aus dem Jahr 1997. Die Serie, die ursprünglich in der Online-Ausgabe der Zeitung veröffentlicht wurde, beschrieb den dramatischen amerikanischen Angriff auf Mogadischu in Somalia und beruhte auf Interviews mit Soldaten, die an der Schlacht teilgenommen hatten. Die Geschichte wurde anschließend zu einem illustrierten Buch, einer Radiosendung und einem Fernsehbeitrag ausgebaut, wodurch das Publikum die Möglichkeit hatte, sie vertiefend zu erkunden.
Der literarische Journalismus ist nicht auf bestimmte Themen beschränkt, sondern wird von Nachrichtenorganisationen eingesetzt, um fesselnde Erzählungen über die verschiedensten Themen zu schaffen – darunter Wirtschaft, Bildung, Beschäftigung, Gesundheit und Wohnen. Allgemein gesagt hat die zunehmende Verfügbarkeit kostenloser Publikationswerkzeuge, insbesondere Blogs, den literarischen Journalismus zu einem beliebten Genre für Journalisten gemacht – sei es für festangestellte Reporter oder freie Autoren –, um ihre persönliche Perspektive auf bestimmte berichtenswerte Ereignisse und Themen zu präsentieren.
Die große thematische Bandbreite, auf die Techniken des literarischen Journalismus angewendet wurden und weiterhin werden, zeigt sich in klassischen wie auch zeitgenössischen Beispielen dieses Genres. In einem der frühesten und bekanntesten Beispiele aus dem Jahr 1887 ließ sich Elizabeth Jane Cochrane, die unter dem Pseudonym Nellie Bly schrieb, verdeckt in eine psychiatrische Anstalt (das „Women’s Lunatic Asylum“ auf Blackwell’s Island in New York) einweisen, um Misshandlungen von Patientinnen aufzudecken. Ein weiteres frühes Beispiel ist die Untersuchung des dänischen Journalisten Jakob Riis aus dem Jahr 1889 über die harten Lebensbedingungen in den Mietskasernen New Yorks. Der daraus resultierende Magazinartikel wurde später zu einem Buch erweitert mit dem Titel How the Other Half Lives: Studies among the Tenements of New York, das als Klassiker des sozial engagierten literarischen Journalismus gilt.
Zeitgenössische Beispiele sind Barbara Ehrenreichs 2001 erschienene Buchreportage Nickel and Dimed: On (Not) Getting By in America sowie Morgan Spurlocks Fernsehdokumentation Super Size Me aus dem Jahr 2004. In Nickel and Dimed arbeitete Ehrenreich verdeckt in verschiedenen Niedriglohnjobs in den USA, um die Auswirkungen des „Welfare Reform Act“ von 1996 auf die arbeitende Unterschicht zu untersuchen. Super Size Me dokumentierte einen Zeitraum von 30 Tagen, in dem Spurlock ausschließlich bei McDonald’s aß – mit dem Ziel, die Auswirkungen dieses Lebensstils auf seine physische und psychische Gesundheit sowie den generellen Einfluss der Fastfood-Industrie zu untersuchen.
Kritik am literarischen Journalismus
Obwohl der literarische Journalismus eines der zwei dominierenden journalistischen Genres der heutigen Welt ist, ist er umstritten. Wissenschaftler des Journalismus und praktizierende Journalisten – insbesondere solche, die dem objektiven Journalismus den Vorzug geben – vertreten die Ansicht, dass der Einsatz literarischer Techniken problematisch sei, weil er zu viel Aufmerksamkeit auf den Journalisten und dessen Erfahrungen lenke – zum Nachteil der dargestellten äußeren Wirklichkeit; weil es für das Publikum schwierig werde, zwischen den Erfahrungen des Journalisten und jenen der dargestellten Figuren zu unterscheiden; und weil bestimmte literarische Techniken – wie nachgestellte Szenen und Dialoge – nur für fiktionale Darstellungen geeignet seien.
Es trifft zwar zu, dass im literarischen Journalismus häufig der Journalist im Mittelpunkt der Erzählung steht, doch bedeutet dies nicht, dass dies zulasten des behandelten Themas geschieht. So erfuhren Leser der Berichte von Ehrenreich und Spurlock zwar viel über die beiden Journalisten selbst, doch standen in deren Arbeiten eindeutig die Themen Niedriglohnbeschäftigung bzw. schlechte Ernährung im Mittelpunkt. Darüber hinaus gebe es keinen Grund zur Annahme, dass das Publikum Schwierigkeiten gehabt habe, zwischen den Erfahrungen der Erzähler und jenen anderer Figuren in den Geschichten zu unterscheiden.
Schließlich – trotz einiger aktueller Fälle übertriebener oder gar frei erfundener Berichterstattung, etwa laut Medien im Fall von Jayson Blair bei der New York Times – bestehe kaum Anlass zu der Annahme, dass bestimmte Techniken des literarischen Journalismus, wie nachgestellte Szenen und Dialoge, missbräuchlich verwendet würden. Vielmehr würden diese Techniken – in der überwiegenden Mehrheit der Fälle – in redlicher Absicht eingesetzt, um die resultierenden Berichte möglichst eindringlich und einprägsam für das Publikum zu gestalten.
Autor: Prof. Dr. Tanni Haas