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Journalismus-Lexikon

Kollaborativer Journalismus (collaborative journalism)

Kollaborativer Journalismus

Kollaborativer Journalismus, auch bekannt als interaktiver Journalismus, partizipativer Journalismus oder Wiki-Journalismus, bezeichnet eine Form des Journalismus, bei der professionelle Journalisten mit Bürgerjournalisten zusammenarbeiten, um für ein bestimmtes Nachrichtenmedium Inhalte zu erstellen. Mitunter – wenn auch seltener – arbeiten sie sogar gemeinsam an denselben Nachrichtenbeiträgen.

Wichtig ist, dass sich kollaborativer Journalismus grundlegend vom traditionellen Journalismus in seiner Vorstellung dessen unterscheidet, was Journalismus ausmacht. Während der konventionelle Journalismus – egal ob von Einzelpersonen oder Teams produziert – Nachrichten als abgeschlossene Produkte versteht, die vom Publikum konsumiert werden sollen, betrachtet der kollaborative Journalismus Nachrichten als fortlaufend unvollständige Beiträge, die sowohl professionelle als auch Bürgerjournalisten kontinuierlich weiterentwickeln und kommentieren können – und sollten.

Journalismus wird somit als ein iterativer Prozess verstanden, oder – wie Befürworter sagen – sollte nicht als fertiger Inhalt, sondern als fortwährender Dialog definiert werden, an dem sich sowohl professionelle als auch nicht-professionelle Akteure beteiligen.

Daher ziehen Vertreter des kollaborativen Journalismus keine scharfe Grenze zwischen professionellen und nicht-professionellen Journalisten. Sie betrachten beide als Mitglieder einer gemeinsamen Gemeinschaft, in der Journalismus eine zentrale Rolle spielt. Die traditionelle Trennung zwischen aktiven Produzenten und passiven Konsumenten wird damit bewusst aufgehoben.

Kollaborativer Journalismus versteht Bürger als aktive Teilnehmer im journalistischen Prozess – im Gegensatz zu bloßen Beobachtern. Er unterscheidet sich jedoch vom Bürgerjournalismus, bei dem Inhalte vollständig von Laien erstellt werden, und vom Public Journalism, bei dem Profis Inhalte unter Berücksichtigung der Anliegen der Bürger erstellen.

Ein weiteres zentrales Merkmal kollaborativer Inhalte – meist online – ist, dass deren Platzierung nicht allein durch Redakteure festgelegt wird. Stattdessen nutzen Beiträgeund Publikum Ranking- und Bewertungssysteme, um die Sichtbarkeit einzelner Beiträge zu beeinflussen.

Die übergeordneten Ziele sind:

 

  • die Zusammenarbeit zwischen Profis und Bürgern zu fördern,
  • Bürger stärker in den Journalismus einzubinden,
  • und sie an der Definition des Begriffs „Nachrichtenwert“ zu beteiligen.

 

Historische Wurzeln des Kollaborativen Journalismus

Kollaborativer Journalismus wurde in den frühen 2000er Jahren im Online-Journalismus zunehmend relevant – als Reaktion auf neue Möglichkeiten für Bürger, selbst Nachrichten zu erstellen und zu verbreiten, insbesondere durch politische Blogs.

Medienunternehmen erkannten, dass sie ohne Beteiligung der Öffentlichkeit Gefahr liefen, als irrelevant zu erscheinen.

Seit dem Aufkommen politischer Blogs Ende der 1990er-Jahre haben sich etwa 1,3 Millionen politische Blogger etabliert – meist keine Journalisten, sondern engagierte Bürger. Sie berichten von selbst erlebten Ereignissen, kommentieren Medienberichte und vertreten eigene politische Positionen – etwa durch Werbung, Spendenaufrufe, Petitionen und Veranstaltungsinformationen.

Diese Blogs weckten das Bedürfnis, Teil des journalistischen Prozesses zu werden – ein Bedürfnis, dem kollaborativer Journalismus begegnet. Bürger konnten mehrfach schneller als etablierte Medien berichten, z. B. beim Arabischen Frühling, Occupy Wall Street, beim Tsunami in Indonesien oder dem Euromaidan in der Ukraine.

Seit 2003 wird diese Praxis durch J-Lab – das Institute for Interactive Journalism gefördert, geleitet von Jan Schaffer, einer Pulitzer-Preisträgerin. J-Lab unterstützt Projekte auf nationaler und lokaler Ebene.

 

Die Praxis des Kollaborativen Journalismus

Zahlreiche Medien – vor allem digitale – haben kollaborativen Journalismus fest in ihre redaktionellen Abläufe integriert.

Beispiele reichen von hyperlokalen Webseiten (The Northwest Voice), über nationale Plattformen (OhMyNews), bis zu globalen Aktivistennetzwerken (Indymedia).

Bei The Northwest Voice (seit 2004) werden Beiträge von Bürgern mit minimaler Bearbeitung veröffentlicht, sofern sie keine rechtlichen Probleme verursachen. In der Praxis gibt es eine klare Arbeitsteilung: Die Redaktion behandelt öffentliche Themen, Bürger liefern Beiträge zu persönlichen Anliegen. Diese Struktur findet sich auch bei Plattformen wie Backfence, American Town Network, Bluffton Today oder New West Network.

Im Unterschied dazu bindet OhMyNews in Südkorea mehr als 40.000 Bürgerjournalisten ein. Von rund 200 Artikeln täglich stammen ca. 150 von Bürgern, die von der Redaktion überarbeitet und geprüft werden. Trotz des Umfangs ähnelt die Struktur der anderer Plattformen.

Indymedia wiederum bietet eine radikale Alternative: 1999 im Zuge der WTO-Proteste gegründet, umfasst es heute über 140 selbstverwaltete, vernetzte Ableger in mehr als 50 Ländern. Beiträge werden auf offenen Newswires veröffentlicht, redaktionelle Beiträge per Konsensverfahren hervorgehoben – der Bürgerjournalismus steht im Zentrum.

 

Kritik am Kollaborativen Journalismus

Trotz wachsender Bedeutung ist kollaborativer Journalismus nicht unumstritten. Kritiker bezweifeln, dass Bürger ohne Ausbildung glaubwürdige Inhalte erstellen können.

Zwar verfügen Profis über mehr formale Erfahrung, doch die Praxis zeigt: Bürger sind zur Zusammenarbeit fähig – nicht zuletzt durch jahrelange Erfahrung mit Blogs, sozialen Medien und digitalen Tools.

Einige politische Blogger in den USA wurden sogar bei den Präsidentschaftsparteitagen akkreditiert – erstmals 2004, seither regelmäßig. Präsidenten, Kandidaten, Gouverneure und Bürgermeister haben Pressekonferenzen ausschließlich für Blogger veranstaltet.

 

Autor: Prof. Dr. Tanni Haas




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