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Journalismus-Lexikon

Interaktiver Journalismus

Interaktiver Journalismus

Der Begriff interaktiver Journalismus (interactive journalism) ist relativ neu und beruht auf dem etwas mehrdeutigen Konzept der Interaktivität, das von manchen Wissenschaftlern ganz abgelehnt wird. Daher ist es schwierig, eine Definition dieser Form von Journalismus zu finden. Um hier einen Versuch zu unternehmen, wird zunächst der digitale Kontext betrachtet, in dem der Begriff verwendet wird.

In einem Buch über die Nachrichtenproduktion bei der New York Times wird festgestellt, dass traditionelle Journalisten grundsätzlich nichts gegen die Interaktivität einzuwenden haben, die verschiedenen digitalen Formen des Journalismus innewohnt. Es wird jedoch beklagt, dass diese neuen Plattformen sehr zeitaufwendig seien. Interaktivität wird dort als „ziemlich unklar“ beschrieben – es sei nicht eindeutig, ob damit Interaktionen zwischen Nutzern oder zwischen Nutzer und Computer gemeint seien. Es wird eine Unterscheidung zwischen Interaktivität als Produkt und Interaktivität als Prozess vorgeschlagen. Allgemein wird Interaktivität als die Kontrolle beschrieben, die Nutzer über die Auswahl und Darstellung von Online-Inhalten – seien es Texte, audiovisuelle Medien oder Multimedia – sowie über andere Aspekte der Benutzeroberfläche ausüben. Die Verwirrung bestehe darin, dass interaktiver Journalismus den Eindruck erwecke, es handle sich um Interaktion von Mensch zu Mensch, während es sich oft tatsächlich um Interaktion zwischen Mensch und Computer handle – etwa wenn eine Redaktion ein interaktives Design auf ihrer Website anbietet und die Nutzer dazu einlädt, damit zu arbeiten.

Versteht man interaktiven Journalismus als Nutzer-zu-Nutzer-Kommunikation, so ist er mit Mechanismen wie Rückmeldungen des Publikums (z. B. Nutzer senden Kommentare direkt an Journalisten oder posten sie auf Nachrichten-Websites), öffentlichen Debatten (z. B. Nutzer diskutieren aktuelle Themen), oder Bürgerjournalismus (z. B. Nutzer beteiligen sich durch Bloggen, Informationsbeschaffung oder Einreichen von Inhalten auf einer Website direkt an der Berichterstattung) verbunden. Auch wenn manche dieser Mechanismen in der Praxis weniger gut funktionieren als in der Theorie – einige Forscher sprechen vom „Mythos der Interaktivität“ –, steigern sie dennoch die gesellschaftliche Relevanz des Journalismus, indem sie ihn einer breiteren Bevölkerungsschicht zugänglich machen. Die Technik sollte dabei nicht die menschliche journalistische Bewertung dessen, was relevant ist, verdrängen. Interaktive Erlebnisse zwischen Nutzer und Computer (oder Nutzer und Nutzer) sollten so gestaltet sein, dass sie die organisatorischen Prioritäten betonen und zugleich die Partizipation der Nutzer fördern. Diese Erlebnisse fördern sowohl die Rückkehr der Nutzer zur Website der Medienorganisation als auch die Verbreitung der Botschaft dieser Organisation.

 

Historische Entwicklung

 

In gewissem Maße war Journalismus schon immer interaktiv. Schon der Zeitungsleser trifft eine Auswahl, was er liest, und interagiert so mit dem journalistischen Material. Wir wechseln den Kanal, den Radiosender oder spulen Dokumentationen auf DVD oder Video vor. Auch war es stets möglich, mit Journalisten über Leserbriefe oder andere Rückmeldungen per Post oder Telefon zu interagieren.

Technische Entwicklungen in den 1970er- und 1980er-Jahren, wie LaserDisc und CD-ROM, ließen gewisse interaktive Möglichkeiten erkennen. Doch erst das Internet läutete das Zeitalter der Interaktivität ein – aufgrund seiner technologischen Möglichkeiten und seiner unmittelbaren Wirkung. Seit dem Aufkommen des Internets in der Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Interaktivität in den Medien rasant entwickelt, gefördert durch Innovationen wie das Smartphone und das Tablet in der Mitte der 2000er-Jahre. Das Smartphone, mit Kamera und Internetverbindung, ermöglichte es den Nutzern, hochauflösende Fotos und Videos direkt an die Medien zu senden. Auf diese Weise konnte die Öffentlichkeit in bisher nicht gekanntem Ausmaß Inhalte produzieren. Das Tablet mit seinem großen Touchscreen machte den Konsum interaktiven Journalismus attraktiver; durch das Tippen und Wischen mit den Fingern kann das Material einfach und intuitiv in nahezu jeder Situation genutzt werden.

Beispiele

Es gibt zwei Hauptformen der Interaktivität in den Medien: Zum einen die unterschiedlichen Möglichkeiten der Mitwirkung des Publikums an journalistischer Arbeit, zum anderen die von der Medienorganisation selbst angebotene Interaktivität über Inhalte und Plattformen.

Beiträge des Publikums: Das Publikum kann auf mehrere Arten interaktiv zu den Medien beitragen:

 

  • Leserkommentare: Die meisten Online-Nachrichtenartikel laden heute zur Kommentierung ein – sei es zur allgemeinen Kritik an der Darstellung, zur Korrektur von Fehlern oder Auslassungen, zur Ergänzung weiterer Fakten oder zur Darstellung anderer Perspektiven. Mitunter werden die Kommentare von der Redaktion bearbeitet oder moderiert. Auch über Plattformen wie Facebook, Twitter oder andere soziale Netzwerke der Medienorganisation können Nutzer Stellung nehmen.
  • Videos und Fotos: Die meisten Medienorganisationen ermutigen heute die Öffentlichkeit, berichtenswerte Fotos oder Videos einzusenden – teils werden für besonders gelungene Beiträge auch hohe Summen gezahlt. Ein frühes und eindrucksvolles Beispiel für von Nutzern eingereichte Inhalte zeigt die Rettung von US-Airways-Flug 1549 nach dessen Notlandung im Hudson River in New York. Ein Zuschauer fotografierte die Szene mit dem Smartphone und veröffentlichte das Bild sofort auf Twitter, wo es von professionellen Medien weltweit übernommen wurde.
  • Crowdsourcing: Crowdsourcing kann in verschiedener Form erfolgen. So kann die Öffentlichkeit in die journalistische Recherche einbezogen werden – etwa indem eine Zeitung zehntausende Dokumente zu den Spesenabrechnungen von Abgeordneten veröffentlicht und ihre Leser bittet, diese auf Unregelmäßigkeiten zu prüfen. Ebenso kann das Publikum zu aktuellen Verkehrsbedingungen oder ähnlichem befragt werden.
  • Interaktivität von Seiten der Medien: Einige Medientypen – etwa Radio – sind von Natur aus weniger interaktiv, andere hingegen – wie das Internet – sind es in hohem Maße. Eine grundlegende Form interaktiver Online-Inhalte ist das Verlinken von Text- oder Bildteilen einer Nachricht auf weiterführende Informationen oder Quellen.

Darüber hinaus existieren viele weitere Formen:

 

  • Interaktive Grafiken: Interaktive Grafiken sind heute weit verbreitet. Nutzer können durch Klicken verschiedene Aspekte einer Geschichte erkunden. Eine Grafik über Todesursachen in einem Land könnte beispielsweise Unterkategorien wie „Unfälle“ enthalten, die bei Anklicken detailliertere Informationen zeigen – etwa verschiedene Unfallarten, ihre Häufigkeit usw.
  • Interaktive Statistiken: Statistiken können interaktiv gestaltet werden, indem Nutzer sie nach ihren Interessen filtern können – etwa nach einer Wahl über die Haupt- und Regionalergebnisse hinaus.
  • Interaktive Fotos und Karten: Klickbare Karten oder Fotos ermöglichen es, durch sogenannte Hotspots (anklickbare Bereiche) zusätzliche Informationen bereitzustellen. Diese können aus Text, Video, Ton oder weiteren Grafiken bestehen.
  • Interaktives Video: Auch Onlinevideos können interaktiv gestaltet sein, etwa durch Hotspots, die zu anderen Inhalten verlinken, ohne das Video selbst zu verlassen.
  • Interaktive Umfragen und Quizformate: Umfragen und Quizformate ermöglichen es den Nutzern, sofort Rückmeldung zu geben oder ihr Wissen zu einem Thema zu testen.
  • Webdokumentationen: Die Webdokumentation ist eine neue Plattform, die oft verschiedene Formen interaktiver Elemente miteinander kombiniert. Sie bietet eine ausführliche Erzählstruktur im Web mit zahlreichen Möglichkeiten zur individuellen Gestaltung durch den Nutzer.

 

Vor- und Nachteile des interaktiven Journalismus

Interaktiver Journalismus stellt eine Erweiterung bestehender journalistischer Formen dar, keinen Ersatz. Er eröffnet neue Dimensionen des Journalismus und kann mehr Beteiligung und Engagement fördern, wodurch das demokratische Ziel des Journalismus als vierte Gewalt unterstützt wird. Je technologieorientierter diese meist online stattfindende Form wird, desto wahrscheinlicher ist es jedoch, dass Journalisten die Kontrolle über das Erzählen als journalistisches Werkzeug verlieren. Zudem besteht die Gefahr, dass das Publikum eher Unterhaltung als Bildung bevorzugt, was die gesellschaftliche Funktion des Journalismus schwächen könnte. Diese Entwicklung ließe sich womöglich vermeiden, wenn Journalisten und Medienorganisationen bestrebt sind, Interaktivität zur Förderung gesellschaftlich relevanter Inhalte einzusetzen – nicht nur zur Ablenkung.

 

AutorenProf. Dr. Maria Theresa Konow-Lund und Prof. Dr. Pål Aam



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