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Journalismus-Lexikon

Immersiver Journalismus

Immersiver Journalismus

Immersiver Journalismus basiert auf einer journalistischen Interviewmethode, die zeitgenössische gesellschaftliche Phänomene anhand der Lebensrealitäten einzelner Menschen und Familien untersucht. Immersiver Journalismus bedeutet, sich – wie der Name andeutet – in das Leben anderer hineinzuversetzen, um ein tiefes Verständnis für die vielen Einflüsse zu gewinnen, die deren Leben, Entscheidungen und Handlungen vor dem ersten Zusammentreffen geprägt haben.

 

Theoretischer und historischer Hintergrund

Ich begann 1971 mit der Entwicklung dieser Methodik, während ich an einem journalistischen Projekt über die Möglichkeiten der Rehabilitation von Strafgefangenen arbeitete. Anlass war ein Interview mit einem Vater und dessen Sohn, die im selben Gefängnis des Justizvollzugs von Washington, D.C. inhaftiert waren. In zwölf Wochen getrennt geführter Interviews fiel mir auf, dass das, was beide mir zu Beginn sagten, später stark im Widerspruch zu dem stand, was sie nach Aufbau einer Vertrauensbasis preisgaben. Zu Beginn gestand keiner der beiden ein, wie schlecht ihre schulische Vorbereitung war. Doch nach einigen Wochen sprachen beide offen über ihre Schwierigkeiten beim Lesen einfacher Tests für legale Beschäftigungen. Ich kam zu dem Schluss, dass sie vom Schulsystem in Washington nie auf das Leben vorbereitet worden waren – ihre Chancen auf Rehabilitation waren äußerst gering.

Die wiederholte Interviewstrategie konnte ich als Nächstes während eines siebeneinhalbmonatigen Aufenthalts (1976–1977) bei regierungsfeindlichen angolanischen Guerillas anwenden. Durch wiederholte Gespräche mit einzelnen Soldaten gelang es mir, über die einstudierte Rhetorik des Kalten Krieges hinaus zu den eigentlichen Beweggründen für ihren jahrelangen Kampf vorzudringen. Ihre Entschlossenheit, ohne absehbares Ende weiterzukämpfen, beruhte auf einer tief verwurzelten, stammesbedingten Angst vor der Dominanz durch eine der anderen großen ethnischen Gruppen des Landes.

Während der letzten 16 meiner 33 Jahre bei der Washington Post setzte ich diese Methodik in verschiedenen Projekten ein – unter anderem über wirtschaftliche Entwicklung im ländlichen Westkenia, Teenagerschwangerschaften in armen afroamerikanischen Gemeinschaften, Drogenabhängigkeit unter Justizvollzugsbeamten und das Leben in der städtischen Unterschicht. Letzteres wurde auch als Buch unter dem Titel Rosa Lee: A Mother and Her Family in Urban America veröffentlicht.

Diese Herangehensweise blieb nicht ohne Kritik. In einer Rezension über Rosa Lee schrieb Sam Fulwood III 1996 in der Los Angeles Times, das Buch liefere zwar eindrucksvolle Beschreibungen der Probleme schwarzer Amerikaner, stelle das Leben der porträtierten Frau jedoch ohne gesellschaftlichen, historischen oder politischen Kontext dar. Deshalb könne man ihre Geschichte als bedeutungslos für alles andere als ihr eigenes Elend ansehen.

Trotz dieser Kritik werden Sie in diesem Kurs die Techniken des immersiven Journalismus durch ein eigenes Projekt erlernen. Sie werden eine geeignete Person gewinnen, sie ausführlich mit einem digitalen Aufnahmegerät interviewen, die Gespräche transkribieren und darauf basierend eine Zwischen- sowie eine Abschlussgeschichte verfassen.

Diese Interviewmethode gilt als eine der besten, um als Ethnograf, Autor oder Reporter Einblicke in gesellschaftliche Phänomene zu erhalten. Sie lässt sich auf jede ethnische Gruppe und jede soziale Schicht anwenden – vom Reichtum bis zur Armut.

Wenn Sie eine echte Neugier für menschliches Verhalten mitbringen, können Sie von gesprächsbereiten Personen überraschende Einblicke in deren Bedürfnisse, Wünsche und Motivationen erhalten. Dabei erkennen Sie, wie Persönlichkeitsmerkmale, Lebensumstände und die Entscheidungen von Eltern und Vorfahren das heutige Leben Ihrer Interviewpartner prägen. Viele sind sich der Einflüsse der Vergangenheit erst dann bewusst, wenn sie im Gespräch darauf gestoßen werden. Kommt es zu solch einem Moment der Selbsterkenntnis – und ist er nicht zu schmerzhaft –, entsteht häufig eine tiefe Bereitschaft zur Zusammenarbeit.

Wie schnell sich eine befragte Person öffnet, hängt vom Thema, von ihrer Persönlichkeit und von Ihren Interviewfähigkeiten ab. Lassen Sie sich davon nicht entmutigen. Gute Interviewer entstehen durch Übung und Ausdauer – nicht durch Talent allein.

Unabhängig davon, wie Sie über die Lebensentscheidungen der befragten Person denken: Bleiben Sie neutral. Vermeiden Sie jeden wertenden Blick oder Tonfall. Andernfalls wird Ihr Gegenüber nicht mehr die eigene Wahrheit erzählen, sondern das, was gesellschaftlich als akzeptabel gilt.

In einem kurzen Semesterkurs sollten sensible Themen vermieden werden. Sexualität etwa ist ein schwieriger Bereich, über den Menschen meist erst nach Monaten des Vertrauens offen sprechen. Da Ihnen diese Zeit nicht zur Verfügung steht, werden Projekte über Sexualität oder langjährige kriminelle Handlungen nicht akzeptiert.

 

Die Praxis des immersiven Journalismus

Verbringen Sie so viel Zeit wie möglich im Feld mit der zentralen Person Ihres Projekts. Um Vertrauen aufzubauen, empfiehlt sich besonders zu Beginn jede Woche mindestens eine zweistündige Sitzung. Seien Sie dabei flexibel und passen Sie sich dem Zeitplan der befragten Person an.

Wenn das Gespräch ins Stocken gerät oder unangenehm wird, legen Sie das Aufnahmegerät beiseite. Statt weiterzufragen, verbringen Sie einfach Zeit mit Ihrem Gegenüber – beim Essen, bei einer Tasse Kaffee oder einem Spaziergang. Erzählen Sie auch aus Ihrem eigenen Leben – besonders dann, wenn es Parallelen oder Unterschiede zur Biografie Ihres Gesprächspartners gibt. Achten Sie auf das, was Ihnen in diesen informellen Momenten anvertraut wird und in den formellen Interviews nicht zur Sprache kam. Notieren Sie es später, und greifen Sie es in einem späteren Interview wieder auf.

 

Erforderliche Ausrüstung

Sie benötigen ein kleines, tragbares Aufnahmegerät – idealerweise ein digitales. Damit können Sie die Gespräche leicht auf Ihren Computer übertragen und transkribieren. Die meisten Computer verfügen über passende Software. Auch Smartphones mit Aufnahmefunktion sind geeignet, solange sie sich mit Transkriptionssoftware verbinden lassen.

Achten Sie während der Interviews auf eine zuverlässige Stromversorgung – idealerweise mit Netzadapter. Wenn kein Stromanschluss verfügbar ist, verwenden Sie neue Batterien (Lithiumbatterien sind am zuverlässigsten) und nehmen Sie immer Ersatz mit.

 

Methodik

Hinweis: Zwischen dem dritten und vierten Interview beginnen viele Personen, sich selbst zu widersprechen. Das ist ein gutes Zeichen – es zeigt, dass die öffentliche Maske fällt und Vertrauen entstanden ist.

Erstes Interview: Führen Sie die Person durch ihre gesamte Schullaufbahn – Jahr für Jahr, beginnend mit der frühesten Erinnerung. Besonders wichtig ist der Zeitraum vom Kindergarten bis zum Abschluss oder Abbruch. Stellen Sie offene Fragen, reagieren Sie auf die Antworten. Verwenden Sie keine vorbereiteten Listen, sondern gehen Sie von Ihren eigenen Schulerfahrungen aus. Halten Sie Blickkontakt und lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht auf Notizen.

Zweites Interview: Kindheit und Aufwachsen in der Familie – von der frühesten Erinnerung bis zum Auszug (oder bis heute, falls die Person noch im Elternhaus lebt).

Drittes Interview: Glaube, Religion oder deren Abwesenheit – Beginnend mit der frühesten Erinnerung an religiöse Einflüsse, weiter über Kirchenbesuche, Religionsunterricht oder Gespräche mit religiösen Personen bis hin zur aktuellen Haltung. Auch Atheismus oder Agnostizismus sollten thematisiert werden.

Viertes Interview: Aufwachsen außerhalb der Familie – Erinnerungen an Freunde, Cousins, Freizeitaktivitäten, prägende Gespräche unter Gleichaltrigen. Versuchen Sie, Schlüsselmomente zu erfassen, in denen sich das Selbstbild der Person entwickelt hat.

Zwischengeschichte: Nach diesen vier Interviews liegt ein grobes Gerüst der Lebensgeschichte vor. Oft treten zwischen dem dritten und vierten Gespräch Widersprüche zu früheren Aussagen auf. Greifen Sie diese in späteren Interviews auf. Verfassen Sie nun eine fünfseitige, doppelt zeilige Geschichte. Konzentrieren Sie sich auf das, was sich als zentrales Thema herauskristallisiert hat – auch wenn es von Ihrer ursprünglichen Annahme abweicht.

Das Skelett mit Leben füllen: Die Beziehung ist nun gefestigt. Überprüfen Sie Ihre Transkripte und Notizen. Suchen Sie nach bedeutenden Lebensereignissen, Wendepunkten oder schmerzhaften Erfahrungen. Führen Sie darauf basierend drei gezielte Interviews zu den Themen, die sich als zentral erwiesen haben. Wenn Widersprüche erkennbar sind, thematisieren Sie sie vorsichtig – ohne sie direkt als solche zu benennen.

Diese Gespräche müssen nicht lang sein. Auch ein lockeres Gespräch bei einer Mahlzeit ist geeignet. Wichtig ist eine entspannte Atmosphäre – besonders bei heiklen Themen.

Die Geschichte, die Ihnen Ihr Gegenüber jetzt erzählt, unterscheidet sich meist deutlich von dem, was zu Beginn gesagt wurde.

Gezielte Interviews können sich über Monate oder Jahre erstrecken. Mein längstes Projekt dauerte vier Jahre.

 

Autor: Leon Dash




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