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Journalismus-Lexikon

Human-Interest-Journalismus

Human-Interest-Journalismus

Der Soziologe Robert Park bezeichnete den Human-Interest-Anteil im Journalismus als „das universelle Element in den Nachrichten“ – als etwas, das dafür sorgt, dass eine Geschichte „um ihrer selbst willen gelesen wird, auch wenn der Leser an ihr als Nachricht gar kein Interesse hat“. Helen MacGill Hughes, eine Wissenschaftlerin auf diesem Gebiet, verglich Human-Interest-Journalismus mit den „kleinen Nachrichten“, die „praktisch keine Bedeutung“ hätten.

Beide räumten allerdings ein, dass dies lediglich oberflächliche Beschreibungen eines viel tiefergreifenden Nachrichtenformats seien. Auf grundlegender Ebene machen Geschichten, die universelle Themen aufgreifen – ob außergewöhnlich oder alltäglich –, zentrale Vorstellungen vom Menschsein und vom gesellschaftlichen Miteinander sichtbar. Human-Interest-Geschichten spiegeln Vorstellungen von Zufall, Schicksal, richtigem und falschem Verhalten, Freude, Trauer, Liebe oder Angst wider – Erfahrungen, die Menschen auf der ganzen Welt verbinden, auch wenn sie kulturell verschieden ausgeprägt sind.

Auf praktischer Ebene weckt Human Interest die Aufmerksamkeit für Themen, die sonst als langweilig, fern oder unverständlich wahrgenommen würden – sei es die Müllabfuhr in der Nachbarschaft oder der globale Klimawandel. Aus diesem Grund ist Human Interest kein abgeschlossenes Ressort im Journalismus, sondern ein erzählerisches Prinzip, das sich durch alle Themenfelder ziehen kann. Viele Beiträge dienen zwar rein der Unterhaltung oder Ablenkung – doch bei Nachrichten mit größerer Tragweite wird Human Interest zum Schlüsselelement für gute Erzählweise, verantwortungsvollen Journalismus und Berichterstattung, die etwas bewirken kann. Es ist sowohl ein Nachrichtenwert an sich als auch ein Instrument, um relevante Geschichten greifbar zu machen.

Seit den Anfängen der Massenpresse nutzten Redaktionen emotionale Geschichten – Berichte, die erstaunten, schockierten, zum Lachen oder Weinen brachten –, um Leserschaft zu gewinnen und Anzeigenkunden anzuziehen. Diese kommerzielle Logik gilt auch heute noch – in Zeiten digitaler Überfülle und Informationsflut. Doch der Bedarf an Human-Interest-Journalismus gründet auch auf höheren Prinzipien: auf der Rolle des Journalismus, Gemeinschaft zu stiften, Wissen zu teilen und gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern. Solche Geschichten helfen nicht nur, das eigene Leben besser zu verstehen, sondern fördern Mitgefühl – und manchmal auch Engagement – für andere.

Unabhängig vom journalistischen Fachgebiet sollten alle Journalisten in der Lage sein, Human-Interest-Geschichten zu erkennen, zu erzählen und Elemente davon in ihre gesamte Arbeit zu integrieren.

 

Formen von Human-Interest-Nachrichten

Die von Hughes als „perennierende Geschichten“ beschriebenen Formate enthalten grundsätzlich menschliches Interesse – oft sogar mehr als andere klassische Nachrichtenwerte wie Aktualität, Nähe, Kontroverse oder Relevanz. Manche dieser Geschichten drehen sich um besondere Protagonisten: süße Tiere oder kleine Kinder – besonders, wenn sie in Not sind – rühren das Herz selbst Unbeteiligter. Auch exzentrische Menschen oder Personen mit ungewöhnlichen Leidenschaften bieten oft interessanten Stoff. Weitere typische Themen sind menschliche Beziehungen – familiäre Konflikte, Liebesgeschichten oder Wiedervereinigungen. Andere Beiträge entwickeln sich aus dramatischen Wendungen wie Zufällen, Ironie oder Schicksalsschlägen.

Allen Varianten ist der Fokus auf persönliche Höhen und Tiefen gemein. Die Inhalte können dramatisch sein und extreme Erfahrungen zeigen, oder sie wirken eher banal – wenn auch ungewöhnlich. In der Regel behandeln Human-Interest-Geschichten das Private – doch sie können auch helfen, komplexe gesellschaftliche Themen zu vermitteln. Oft geht es um unbekannte Menschen, die Außergewöhnliches tun. Umgekehrt erzeugen Geschichten über Prominente oder Politiker, die ganz Alltägliches tun, ebenfalls menschliches Interesse – etwa wenn ein Filmstar im Bioladen einkauft oder ein Verkehrspolizist Kaninchen züchtet.

Die einfachste Form ist der sogenannte „Brite“ – eine knappe, originelle Geschichte, meist nur ein Absatz lang, die in der Zeitung, in den Nachrichten oder als kurzes Video verbreitet wird. Längere Beiträge greifen auf erzählerische Mittel zurück: Figurenzeichnung, Dialoge, Szenen – Techniken des narrativen Journalismus. Was etwa ein Reporter als „intimen Journalismus“ beschreibt, zielt darauf, zu zeigen, „wie Menschen leben und was sie wichtig finden … alles, was wir tun oder für bedeutsam halten, das Gewöhnliche wie das Außergewöhnliche“.

Viele Human-Interest-Geschichten gelten als „gute Nachrichten“. Manche Medien bieten daher eigene Rubriken oder Onlinebereiche dafür. Doch Human Interest muss nicht immer fröhlich sein – auch Themen wie Tragik, Vergänglichkeit oder Todesfälle können eine Rolle spielen.

Meist findet man diese Form in Feature-Texten oder sogenannter „weicher“ Berichterstattung. Doch auch im „harten“ Nachrichtengeschäft suchen gute Reporter nach menschlichen Aspekten. Die bekannte „Wall-Street-Journal-Formel“ personalisiert komplexe Themen, indem sie mit einem Einzelfall beginnt und endet. Solche „Fokusgeschichten“ geben abstrakten Themen ein Gesicht.

 

Beispiele für Human-Interest-Journalismus

Typische Motive: ein verschwundenes Kind wird gefunden, ein bedrohtes Tier gerettet, ein Held hilft uneigennützig. Die Schlagzeilen sprechen oft für sich:

„Misshandelter Welpe braucht nur etwas Liebe“

„Junge sammelt 79 Mäntel für obdachlose Familien“

„Zwei Kinder aus Schneeverwehung gerettet“

„Dackel verliert 23 Kilo und wird Kalender-Model“

„Polizisten stoppen Autofahrer – um Geld zu schenken“

„Kassiererin zahlt Einkäufe eines Fremden aus eigener Tasche“

Solche Geschichten gehen oft viral – ein Video verbreitet sich im Netz, wird von etablierten Medien aufgegriffen und landet schließlich in der breiten Öffentlichkeit.

Andere Geschichten benötigen mehr Recherche – etwa wenn Menschen große Hindernisse überwinden, aus Armut aufsteigen oder mit Behinderungen leben. Ein herausragendes Beispiel ist die Geschichte eines Jungen, der in Indien mit fünf Jahren verloren ging und seine Mutter 25 Jahre später mithilfe von Satellitenbildern wiederfand.

Weitere Beispiele:

„Bionische Hände helfen Elektriker zurück in den Beruf“

„Mann mit seltener Gesichtserkrankung reist um die Welt, um Kinder zu inspirieren“

„Stumme Jugendliche findet ihre Stimme beim Cheerleading“

„Vom Software-Millionär – eine Geschichte über Willensstärke“

„Überlebende berichten von Panik und Angst bei Lawine am Everest“

Einige Medien basieren nahezu komplett auf Human Interest – etwa People, das erfolgreichste Magazin des Verlags Time Inc. seit 1974. Neben Prominenten standen dort immer auch normale Menschen im Mittelpunkt – wie ein Mann, der nach 9 Jahren in der Autoindustrie arbeitslos wurde, während seine Kleinstadt wirtschaftlich am Boden lag. Heute wird People oft dafür kritisiert, sich zu sehr auf Stars zu konzentrieren. Doch nach wie vor erscheinen dort auch eindrückliche Geschichten über Schicksal, Hoffnung oder skurrile Lebensläufe – etwa von einem Vater, der nach dem Tod seines Kindes ein neues Baby bekommt, oder einem Mann, der 101 kreative Verwendungen für das Hochzeitskleid seiner Ex-Frau findet.

Auch wenn manche Medien vorhersehbare Themen wählen, zeigen viele Redaktionen eine große Bandbreite an Erfahrungen, die über bloße Unterhaltung hinausgehen. Gerade bei großen Ereignissen – wie den Olympischen Spielen – gibt es immer auch berührende Einzelschicksale. Vom Sportler aus armen Verhältnissen bis zum Wettkämpfer, der für einen verstorbenen Freund antritt, reichen die Beispiele.

Besonders gut recherchierte und geschriebene Beiträge mit gesellschaftlicher Relevanz werden mit renommierten Preisen ausgezeichnet – etwa dem Mike-Berger-Preis für herausragende Human-Interest-Reportagen oder dem Ernie-Pyle-Preis der Scripps-Howard-Stiftung. Die ausgezeichneten Geschichten handeln häufig von Scheitern, Krisen oder Systemversagen – erzählen aber auch von Hoffnung und Menschlichkeit.

 

Kritik am Human-Interest-Ansatz

Human-Interest-Journalismus birgt Risiken: Ausbeutung, Vereinfachung, Ablenkung. Kritiker sagen, er bediene Voyeurismus oder verstärke Verzerrungen, wenn er nur Einzelfälle statt systematischer Daten zeige. Auch gut gemachte Beiträge können durch ihre emotionale Kraft ein zu positives oder negatives Bild zeichnen. Der Vorwurf: Manipulation.

Trotzdem erkennen viele Medienschaffende den Wert kleiner, bewegender Geschichten an. Auch Skeptiker sehen ein, dass Human-Interest-Elemente komplexe Themen zugänglich machen können. Wenn mit Sorgfalt und Verantwortung gearbeitet wird, leistet Human-Interest-Journalismus Informationsarbeit, die andere Formate nicht leisten können.

 

Autorin: Prof. Dr. Judy Polumbaum




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