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Journalismus-Lexikon

Hinterhalt-Journalismus (ambush journalism)

Hinterhalt-Journalismus

Der Begriff „Hinterhalt“ mag wie ein aggressives Adjektiv erscheinen, um ein journalistisches Genre zu beschreiben, doch die meisten seiner Vertreter würden zustimmen, dass er zutreffend ist. Hinterhalt-Journalismus ist aggressiv: Es geht darum, jemanden unvorbereitet zu erwischen – besonders dann, wenn diese Person kein Interesse an einem Interview hat.

Diese Praxis ist bei Fernsehjournalistinnen beliebt geworden – wir haben wahrscheinlich alle schon Videomaterial gesehen, in dem ein Kameramann und ein Reporter auf einen Politiker oder Prominenten zurennen, der ganz offensichtlich lieber in Ruhe gelassen würde. Wird die Person an einem unerwarteten Ort wie einem Parkplatz oder auf der Straße überrascht, gibt sie häufig eine spontane Antwort. Dabei ist es wahrscheinlicher, dass sie sich in einer Lüge verfängt oder einen Fehler macht – das ergibt einen „guten Ton-Schnipsel“ für investigative Journalisten oder Kriminalreporter.

„Opfer“ und andere Journalisten verurteilen den Hinterhalt-Journalismus (ambush journalism) als unethisch – besonders in einer Zeit, in der Journalismus mitunter als verantwortungslos wahrgenommen wird. Befürworter hingegen argumentieren, dass das Überrumpeln einer Nachrichtenperson mitunter der einzige Weg sei, ein Interview zu bekommen, und dass die Methode notwendig sei, um dem Publikum eine ausgewogene Berichterstattung zu bieten. Bei kontroversen Themen wollen sich viele Betroffene schlicht nicht äußern.

Der Ursprung des Hinterhalt-Journalismus liegt ironischerweise bei einer der angesehensten Fernsehnachrichtenredaktionen der Geschichte: dem CBS-Nachrichtenmagazin 60 Minutes. Als die Sendung 1968 an den Start ging, wählte Produzent Don Hewitt den erfahrenen Reporter Mike Wallace als einen ihrer Stars aus.

Wallace war ein Pionier der Hinterhalt-Technik, die er für notwendig hielt, um an die „wahre Geschichte“ zu kommen. Vor der Haustür zurückhaltender Quellen aufzutauchen, war eine bewährte Praxis von Printjournalisten – aber niemand wusste, ob das im Fernsehen funktionieren würde. Wallace war überzeugt, dass man das auch mit Kamera tun könne – und dass es dramatisch wäre. Er begann, Menschen auf der Straße zu konfrontieren, und das Filmmaterial war einprägsam. Einmal sprang Wallace sogar aus einem Schrank, um jemanden während einer verdeckten Aktion zu überraschen. Ein solcher Fall führte zu einer bedeutenden Grundsatzentscheidung zum Ersten Verfassungszusatz (Meinungsfreiheit) vor dem Berufungsgericht in New York.

In den 1980er Jahren ließ Wallace die Praxis fallen – er fand sie mittlerweile zu klischeehaft. Zu diesem Zeitpunkt jagten Boulevardreporter wie Geraldo Rivera bereits Menschen durch die Straßen, um aufsehenerregende Interviews zu führen. Diese Methoden schienen zu wirken – Riveras Show hatte hohe Einschaltquoten. Auch Dokumentarfilmer Michael Moore nutzte regelmäßig Überrumpelungen – auf der Straße und sogar in Wohnungen. Später werden wir noch auf den Sturm der Entrüstung eingehen, der ausbrach, als Moore den gealterten Schauspieler Charlton Heston für ein kontroverses Hinterhalt-Interview aufsuchte.

Der wohl bekannteste moderne Vertreter dieser Technik ist Bill O’Reilly vom Fox News Channel und seiner Sendung The O’Reilly Factor. Einer seiner Produzenten machte Schlagzeilen, als er einer Bloggerin im Urlaub nachstellte, weil sie O’Reillys Auftritt bei einer Spendengala für Vergewaltigungsopfer kritisiert hatte. O’Reilly setzt die Technik des Hinterhalt-Journalismus regelmäßig und offensiv ein – seine Zuschauer schalten genau deswegen ein.

Natürlich gibt es viele weitere Vertreter dieser Methode, darunter John Stossel von ABC News und der konservative Journalist Jason Mattera. Hinterhalt-Journalismus ist ein Werkzeug im Arsenal vieler Reporter geworden – mit positiven wie negativen Konsequenzen. Nachdem wir nun wissen, wie sich diese Praxis entwickelt hat und wer die Hauptakteure sind, schauen wir uns einige konkrete Beispiele an:

– 2009: Der unter Druck stehende Gouverneur von Illinois, Rod Blagojevich, wurde von Journalist Geraldo Rivera verfolgt, nachdem er ein geplantes Interview am Morgen abgesagt hatte. Rivera spürte ihn auf dem Parkplatz der Fernsehsendung The View auf und interviewte ihn, als Blagojevichs Auto gerade abfuhr. Das Gespräch war zwar nicht besonders konfrontativ, aber Rivera war offensichtlich entschlossen, Blagojevich irgendwie in seine Sendung zu bekommen.

– Jesse Watters, Produzent bei Fox News, hat sich auf Hinterhalt-Interviews spezialisiert. Das Team von The O’Reilly Factor schickt ihn regelmäßig los, um Personen in der Öffentlichkeit oder bei Veranstaltungen zu konfrontieren. 2012 besuchte Watters das Green Festival in New York und stellte den Umweltaktivisten Van Jones zur Rede. O’Reilly nannte das Segment „Watters’ World“. Ein kurzer Ausschnitt aus der Sendung:

O’REILLY: Du wurdest rausgeschmissen?

WATTERS: Ja, wurde ich.

O’REILLY: Warum?

WATTERS: Ich habe Van Jones direkt zu Beginn überrumpelt.

O’REILLY: Das war der Typ, mit dem du gesprochen hast …

WATTERS: Genau. Ich war auf ihrem Radar. Dann kam jemand und sagte: „Du willst die Umweltschützer schlechtmachen. Das ist ein Angriffsstück.“ Ich sagte ihr, es sei ein ehrlicher Beitrag. Aber sie wollte die Umweltschützer beschützen, als wären sie ihre Herde!

2010: O’Reilly zeigte Aufnahmen, in denen Watters den ehemaligen Vizepräsidenten Al Gore vor einem Vortrag an der Duke University (North Carolina) konfrontierte. Gore hatte ursprünglich einem Interview zur Klimapolitik zugestimmt, zog seine Zusage jedoch zurück. O’Reilly kommentierte: „Hat er nicht die Verantwortung, diese Fragen zu beantworten? Auch wenn er kein Amt mehr innehat, denken wir, dass er das hat.“

Trotz seiner Verteidigung zeigte sich selbst O’Reilly erschüttert, als der konservative Journalist Jason Mattera Hillary Clinton während einer Lesereise konfrontierte. Er bat sie, ein Buch mit der Widmung „Für Christopher Stevens“ zu unterschreiben – Stevens war der US-Botschafter, der 2012 in Bengasi bei einem Angriff ums Leben kam. Clinton war wegen möglicher Sicherheitsversäumnisse unter Druck geraten. Sie unterschrieb das Buch einfach mit ihrem eigenen Namen – blieb also ruhig – doch viele Journalisten, auch O’Reilly, verurteilten den Vorgang als geschmacklos.

2002: Filmemacher Michael Moore suchte unangekündigt Charlton Heston, den Präsidenten der Waffenlobby NRA, in dessen Haus auf. Moore konfrontierte ihn mit dem unglücklichen Zeitpunkt einer NRA-Veranstaltung kurz nach dem Schulmassaker von Columbine. Auf die Frage, warum Waffengewalt in den USA so viel häufiger vorkomme als in anderen Ländern, antwortete Heston: „Weil wir wahrscheinlich mehr ethnische Durchmischung haben.“ Danach beendete er das Gespräch. Das Interview wurde aufgenommen, bevor Heston öffentlich gemacht hatte, dass er an Alzheimer erkrankt war – veröffentlicht wurde es danach. Moore erntete massive Kritik: Man warf ihm vor, einen Mann überrascht zu haben, der nicht mehr zurechnungsfähig sei.

Nachdem wir nun wissen, was Hinterhalt-Journalismus ist, wer ihn praktiziert und wie er aussieht, werfen wir einen kritischen Blick auf die Methode.

Wie gesagt, wird Hinterhalt-Journalismus je nach Perspektive als unethisch und geschmacklos oder als einfallsreich und notwendig angesehen. Ein weiteres Beispiel: 1973 strahlte 60 Minutes einen Bericht über das Verhalten eines US-Oberst während des Vietnamkriegs aus. Der Oberst klagte, er sei als Lügner dargestellt worden. Er war empört, weil Mike Wallace ihn überraschte – mit einem Kollegen aus der Armee, der seine Darstellung widerlegte. 2005 wies ein US-Berufungsgericht die Verleumdungsklage ab: Der CBS-Bericht sei im Wesentlichen korrekt gewesen. Hier könnte man argumentieren, dass der Hinterhalt-Journalismus wirksam war und sogar neue Maßstäbe im Schutz vor unbegründeten Klagen setzte.

Kritiker richten ihre Vorwürfe oft gegen Reporter, die Hinterhalt-Journalismus ausschließlich zu Unterhaltungszwecken betreiben, nicht um echte, ausgewogene Perspektiven zu gewinnen. Es mag zwar befriedigend erscheinen, einen Gebrauchtwagenhändler zu konfrontieren, dem Betrug vorgeworfen wird – doch wenn er im Video flüchtet, wirkt er automatisch schuldig, selbst wenn er es nicht ist. Die meisten Menschen – ob schuldig oder nicht – reagieren irrational, wenn sie von einem Kamerateam verfolgt werden.

Ähnlich wie bei der alten Comedyshow Candid Camera, in der Menschen heimlich bei merkwürdigen Situationen gefilmt wurden, ist Hinterhalt-Journalismus heute ein Grund, warum manche Zuschauer gezielt bestimmte Nachrichtensendungen einschalten. Einige Sender greifen dazu, wenn eine Geschichte langweilig ist – oder wenn man die Zielperson unbedingt im Bild haben will. Was einst als letztes Mittel galt, ist heute gängige Praxis – Teil des „Programms“ mancher Journalisten.

Ein Hauptkritikpunkt ist dabei WER den Hinterhalt durchführt. Es gibt Reporterinnen, die versuchen, eine faire und ausgewogene Berichterstattung zu liefern – sie fühlen sich hohen journalistischen Standards verpflichtet. Es gibt aber auch Kommentatorinnen und Aktivistinnen wie Mattera, Moore und O’Reilly, die nicht diesen Standards unterliegen – und auch nicht daran gemessen werden. Ausgewogenheit ist nicht ihr Ziel. In diesen Fällen wird das Ziel des Hinterhalt-Journalismus fragwürdig. Unabhängig davon, wie man selbst dazu steht – jede Redaktion hat ihre eigenen Standards. Und jeder muss für sich entscheiden, wie man sich zu dieser Praxis positioniert.

 

Autorin: Kate Dawson



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