Computer-gestützter Journalismus
Computer-gestützter Journalismus (computer-assisted journalism) bezeichnet alle unterschiedlichen Weisen, wie Journalisten Computer einsetzen, um ihre beruflichen Aufgaben zu erfüllen. Dabei handelt es sich weder um eine journalistische Reformbewegung mit bestimmten normativen Zielen – wie Entwicklungsjournalismus, Bürgerjournalismus oder Lösungsjournalismus – noch um ein journalistisches Genre mit spezifischen Nachrichteninhalten und Erzählstilen – wie investigativer Journalismus, literarischer Journalismus oder Boulevardjournalismus. Vielmehr beschreibt Computer-gestützter Journalismus eines der technischen Mittel mit dem wohl tiefgreifendsten Einfluss auf die heutige journalistische Praxis.
Tatsächlich haben Computer den Journalismus so stark beeinflusst – und tun dies weiterhin –, dass es kaum möglich ist, sich eine Form von Journalismus vorzustellen, die davon unberührt bleibt. Es ist schwer, sich eine Branche vorzustellen, die Computer stärker nutzt als der Journalismus. Trotzdem bestehen einige Beobachter auf einem Unterschied zwischen Computer-gestütztem Journalismus und dem, was sie als guten alten „Schuhsohlenjournalismus“ bezeichnen, bei dem der Journalist im wörtlichen oder übertragenen Sinne auf die Straße geht, um nach Geschichten zu suchen.
Ein solcher Unterschied ist jedoch wenig sinnvoll. Selbst der computerskeptischste Vertreter des Schuhsohlenjournalismus – jemand, der weder Datensätze aus elektronischen Datenbanken nutzt noch Quellen per E-Mail kontaktiert – muss ein computerbasiertes Textverarbeitungsprogramm benutzen, um seine Artikel zu schreiben. Somit ist jeder heutige Journalismus in gewissem Maße Computer-gestützt. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wozu Computer eingesetzt werden und welche Folgen das hat.
Die historischen Wurzeln des Computer-gestützten Journalismus
Die Anfänge des Computer-gestützten Journalismus reichen bis in die frühen 1950er Jahre zurück – konkret zur US-Präsidentschaftswahl 1952 zwischen Dwight Eisenhower und Adlai Stevenson. Damals soll CBS News den Computer Remington Rand Univac eingesetzt haben, um das Wahlergebnis anhand früher Auszählungen vorherzusagen. Obwohl viele davon ausgingen, dass die Wahl knapp werden würde, prognostizierte die Computersimulation – zutreffend – einen Erdrutschsieg Eisenhowers.
Nach dieser Wahl begannen Medien, insbesondere Zeitungen, Computer für interne Aufgaben wie Buchhaltung, Bestandsverwaltung oder Auflagenprognosen zu nutzen. Erst Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre begannen sie, Computer zur Erstellung journalistischer Inhalte einzusetzen. Zu den ersten bekannten Pionieren zählen ein Journalist der Detroit Free Press, der 1967 mithilfe einer computergestützten Umfrage unter Afroamerikanern zeigte, dass sowohl Schulabbrecher als auch Hochschulabsolventen mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit an den sogenannten Detroit-Unruhen teilgenommen hatten; ein Journalist des Miami Herald, der 1968 eine computergestützte Auswertung von Gerichtsakten im Dade County nutzte, um rassistische Tendenzen im Strafjustizsystem aufzudecken; sowie ein Journalist der New York Times, der 1973 mit einer computergestützten Analyse von Opferdaten aufzeigte, dass ein Schwarzer in New York City achtmal häufiger ermordet wurde als ein Weißer.
Mit dem Aufkommen von Mikrocomputern Anfang der 1980er begannen einzelne Journalisten, eigene Computer zu erwerben, statt – wie bisher – gemeinsam genutzte Geräte zu verwenden. Sie speicherten alte Ausschnitte, griffen auf kommerzielle Datenbanken zu und legten eigene thematische Datenbanken an.
Mitte der 1980er Jahre wurden Computer in Redaktionen häufig bei investigativen Projekten eingesetzt. Beispiele sind ein Journalist des Providence Journal in Rhode Island, der bei der Auswertung von 35.000 Hypotheken zeigte, dass Kinder hochrangiger Regierungsbeamter die besten Konditionen erhielten; ein Journalist des Atlanta Journal-Constitution, der rassistische Muster in der Kreditvergabe zahlreicher US-Finanzinstitute enthüllte; sowie ein Journalist des Miami Herald, der nachwies, dass neuere Gebäude häufiger vom Hurrikan Andrew beschädigt wurden als ältere – basierend auf einer computergestützten Analyse von Gebäudeschäden und Bauunterlagen.
1989 wurde die Entwicklung des Computer-gestützten Journalismus durch die Gründung des National Institute for Computer-Assisted Reporting weiter vorangetrieben. Die Organisation wurde durch Investigative Reporters and Editors gemeinsam mit der Journalistenschule der University of Missouri gegründet. Weitere Fachverbände boten bald Schulungen und Workshops zu Computer-gestütztem Journalismus an. Seit Anfang der 2000er Jahre wird in sämtlichen Bereichen des Journalismus routinemäßig mit Computern gearbeitet.
Die Praxis des Computer-gestützten Journalismus
Computer beeinflussen alle Phasen des journalistischen Arbeitens: von der Informationsbeschaffung über die Verarbeitung und Verbreitung bis hin zur Rückmeldung durch das Publikum. In heutigen Redaktionen nutzen Journalisten Computer, um Informationen zu beschaffen – durch Analyse vorhandener Datensätze aus staatlichen oder kommerziellen Datenbanken oder durch Kombination verschiedener Quellen. Ebenso dienen Computer der Kommunikation mit Informanten, etwa per E-Mail oder Messenger.
Auch bei eigenständigen Recherchen sind Computer entscheidend – etwa durch mobile Ausstattung mit digitaler Technik im Außeneinsatz oder für Videoschnitt bei der Produktion. Nach der Informationsbeschaffung helfen Computer bei der Datenverarbeitung, beispielsweise mit Tabellenkalkulationen zur Mustererkennung. In der Druckproduktion ersetzt Computer-to-Plate-Technik klassische Satzverfahren. Auslandsreporter versenden Texte, Ton und Video über Computerverbindungen; Fernsehteams nutzen computergesteuerte Kameras.
Computer sind zudem zentrale Werkzeuge in der Nachrichtenproduktion: zur Texterstellung, Speicherung, E-Mail-Kommunikation, gemeinsamen Bearbeitung von Beiträgen sowie für die grafische oder interaktive Darstellung für das Publikum.
Nicht zuletzt dienen sie der Rückmeldung: Leserbriefe werden zunehmend elektronisch eingesandt, Onlinekommentare und Diskussionsforen sind Standard. Medien integrieren Rückmeldungen aus sozialen Netzwerken in Beiträge – etwa Umfragen auf Facebook oder Twitter zur Meinungsbildung.
Besonders weitreichend ist jedoch die Veränderung des Journalismusverständnisses selbst: Durch Blogs, soziale Netzwerke und kollaborative Projekte ist sogenannter Bürgerjournalismus entstanden. Damit können auch nicht-professionelle Akteure Nachrichten beschaffen, erstellen und bewerten – was das traditionelle System in Frage stellt.
Kritik am Computer-gestützten Journalismus
Trotz des breiten Einsatzes gibt es Kritik von Wissenschaftlern und Journalisten. Der Vorwurf lautet, dass Computer Journalisten passiv gemacht und unabhängige Recherchen verdrängt hätten. Zwar ist ein Rückgang investigativer Recherchen weltweit zu beobachten – ob dies jedoch an der Computernutzung liegt, ist zweifelhaft. Computer erleichtern es zwar, Informationen passiv zu empfangen, statt aktiv zu suchen. Rund ein Drittel der Nachrichten entsteht laut Schätzungen aus PR-Material – sei es als Rohdaten oder fertig geschriebene Artikel. Doch liegt das Problem weniger an der Technik als an ökonomischen Zwängen.
Der gestiegene Einfluss von PR-Stellen ergibt sich vor allem daraus, dass es für Medien kostengünstiger ist, Journalisten Informationen am Bildschirm bearbeiten zu lassen, als sie auf Recherchereise zu schicken. Besonders drastisch zeigt sich das im internationalen Journalismus. Viele Auslandsbüros wurden geschlossen oder personell reduziert. Die Folge: Korrespondenten sind auf PR-Material politischer Stellen angewiesen.
Autor: Prof. Dr. Tanni Haas