Warum Kultur und Kultur nicht dasselbe sind
Wie von den Kritikern des heutigen Kulturjournalismus richtig erkannt wurde, erfanden sich die Kulturressorts der 90er-Jahre noch einmal neu, indem sie sich gesellschaftspolitischen Themen verschrieben. Sie griffen damit auf eine Tradition zurück, deren Merkmal der doppelte Kulturbegriff ist. Kulturell orientierter Journalismus beanspruchte für sich, den Zeitgeist zu beschreiben – als Hintergrund für eine politische Kultur und eine Kultur des Politischen. Da wir in einer Zeit des „Wertepluralismus“ leben, ergibt diese doppelte Zuständigkeit einen Sinn.
Heute möchten Angehörige einer Zivilgesellschaft, die sich als offen und aufgeschlossen versteht, nicht mehr von autoritären Normen gegängelt werden. Zumindest erhebt der größte Teil der Bevölkerung hierzulande den Anspruch, seine Orientierung aus sich selbst zu finden. So ist es nachvollziehbar, dass eine bunte Palette von Themen dazu angetan ist, von den Lesern als Vorgabe zur Selbststeuerung betrachtet zu werden: die Legitimation von militärischen Auslandseinsätzen oder Präventivschläge gegen diktatorische Regime, die Genmanipulation, Umweltschutz und seine praktische Umsetzung, der Atomausstieg, die Institutionalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Integration von Zuwanderern, die Veränderungen in der bürgerlichen Ordnung durch die Aufhebung des Ladenschlussgesetzes, ja, selbst die moralische Integrität von Prominenten sind Themen, die die Menschen bewegen und die für sie eine kulturelle Bedeutung haben.
Auch die andauernde Wertediskussion gehört folglich in den Kulturteil einer akzeptierten Publikation, mit der sich die Leser identifizieren. Nicht jeder sieht das gern, aber es entspricht dem aktuellen Zeitgeist im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Das veränderte und sich weiter verändernde Feuilleton stellt heute eine Art Forum dar, um die problematischen Fragen und die damit verbundenen Wertekonflikte ebenso wie Zukunftserwartungen öffentlich zu diskutieren. Hier können Kulturredakteure die Funktion von Moderatoren übernehmen und den Bürgern dabei helfen, ihrem Eigenanspruch nahe zu kommen. So wird ein neuer Modus der politischen Kultur vorstellbar.
Allerdings könnte es sein, dass diese Vorstellungen zu kurz greifen, weil es Hindernisse gibt: Medien, die Diskurse inszenieren, laufen Gefahr, nach dem Vorbild vieler TV-Shows im Palaver zu enden. Die Redaktionen solcher Formate sind einfallsreich im Formulieren griffiger Themen, die überwiegend aus dem Bereich der Politik stammen. Fakten und Recherche-Ergebnisse liegen vor, aber die aufeinander losgelassenen Gäste hinterlassen oft einen schalen Nachgeschmack: Es wurde viel geredet – aber was genau?
Kulturjournalisten würden andere Diskussionen anregen und sie anders moderieren, aber entgehen sie damit auch dem Risiko, ins reine Entertainment abzugleiten? Und einer weiteren Gefahr, nämlich die von ihnen vertretenen Medien zu der Kultur zu erheben, über die sie eigentlich berichten sollen? Wenn es doch schließlich um die eigenen Reichweiten geht bei der medialen Kommunikation?
In den USA ist zu beobachten, dass sich Medienvertreter zu Meinungsführern stilisieren. Auf diese Weise scheinen sich dort Meinungstrends herauszubilden, für die die Menschen seit dem 11. September 2001 offenbar empfänglich sind. Der Mainstream bestimmt, was gedacht und wie berichtet wird, kaum eines der Massenmedien schreibt noch dagegen. Der Kulturjournalismus beschäftigt sich überwiegend mit der kommerziellen Unterhaltung und hütet sich, den Zustand der Gesellschaft durch das Mikroskop der Kritik zu betrachten und die Analyse öffentlich zur Diskussion zu stellen. Ausnahmen bilden einige intellektuelle Zeitschriften und Internetforen.
Bei uns könnte der neue Kulturjournalismus die mediale Rückkopplung drosseln , wenn er den Mut findet, die nicht unkomplizierte Doppelrolle des Themenvorgebers und gleichzeitigen Moderators auszufüllen. Kulturjournalisten, die sich in den Dienst der Selbstaufklärung einer Gesellschaft stellen – vielerorts ist das bereits der Fall.